Klassischer Zirkus versus Nouveau Cirque?


Der sogenannte Nouveau Cirque entwickelte sich in den späten 1960er Jahren als eigene Form unter den darstellenden Künsten (performing arts). Die Strömung besann sich auf ältere Wurzeln in den 1920er Jahren und wollte den Zirkus sozusagen neu erfinden. Von Frankreich ausgehend, nahm sie in den 1970ern Einfluss in verschiedenen Ländern, schwerpunktmäßig in England, Australien, den USA (Westküste) und in Kanada. Dort, genauer gesagt in der ostkanadischen Stadt Montréal, Hauptstadt der französischsprachigen Provinz Québec, etablierte sich Anfang der 1980er Jahre ein Zentrum für Nouveau Cirque, dessen Aushängeschild der weltbekannte Cirque du Soleil wurde. Der "Sonnenzirkus" gehört heute einem Konsortium von Investmentgruppen aus den USA und China und geht in allen Kontinenten mit Hallen- und Zeltshows auf Tournee (s. auch unter Zirkus in Europa). Die Kunstrichtung des Nouveau Cirque insgesamt genießt besonders im gut situierten Umfeld städtischer Bevölkerungsgruppen einen guten Ruf.

Nouveau Cirque hat nur teilweise mit Zirkus im eigentlichen Sinn zu tun, da die Darstellungsform sich mit anderen Künsten wie Tanz, Theater und Musical überschneidet - wobei fairerweise erwähnt werden muss, dass bereits die großen Zirkusse im 19. Jahrhundert mit sogenannten "Pantomimen" (thematischen Manegenschaustücken) Mischformen verschiedener Künste darboten. Das Hauptaugenmerk im Nouveau Cirque liegt auf dem ästhetischen Effekt: Inszenierung und künstlerischer Ausdruck stehen an erster Stelle, gerne wird ein Charakter oder eine Geschichte entwickelt. Die eigentliche artistische Leistung tritt dabei nicht selten in den Hintergrund, einige zirkustypische Elemente wie Spannung oder Nervenkitzel fehlen weitgehend. Statt Glitzerkostümen trugen die Artisten von Beginn an eher lässige, moderne Kleidung. Auf Tierdarbietungen wurde ebenso von vornherein verzichtet.


Bilder: Der Cirque du Soleil mit "Corteo" in Hamburg-Moorfleet. - 1: Die gewaltigen Zeltanlagen bei Nacht. - 2: Blick auf die verhängte Bühne; im Cirque du Soleil darf nicht fotografiert werden. - 3: Container und Personal auf dem Zirkusplatz. 


Der Cirque du Soleil ist nicht mal das typischste Beispiel für Nouveau Cirque, denn mit seiner Monumentalität, der Auswahl der Nummern (Einflüsse des klassischen Zirkus, z.B. Sensationsakrobatik) sowie mit dem Einsatz origineller Kostüme hebt er sich von vielen anderen Produktionen ab. Doch auch im "Sonnenzirkus" wird nicht von "Nummern", sondern von "Szenen" gesprochen, die in die Rahmenhandlung der Show eingebettet sind. Festgelegte Rollen können mit austauschbaren Akteuren (= Artisten) besetzt werden. So erhalten die Choreografie und die Gesamtleistung des Ensembles Vorrang vor artistischen Einzelleistungen. Passend dazu werden in Programmheften an erster Stelle Produzenten, Regisseure und Designer erwähnt. - Schöne Beispiele für Neuen Zirkus liefern der in Deutschland reisende Cirque Bouffon mit persönlicher Atmosphäre und der Schweizer "Theater"-Circus Monti, der ursprünglich aus einer anderen Tradition stammt.

Bilder: Im Cirque Bouffon von Fréderic Zipperlin wird Nouveau Cirque in recht intimer Atmosphäre gepflegt. Der Zirkus hat sein Stammquartier in Köln (von dort auch die Bilder) und geht in deutschen Großstädten auf Tournee.


Das größte Zirkusfestival für Nouveau Cirque - das Festival des Circus von Morgen (franz.: Festival du Cirque de Demain) in Paris - ist gleichzeitig eines der größten Zirkusfestivals überhaupt. Passenderweise findet es in Frankreich statt, wo die Wurzeln des Nouveau Cirque liegen und die Richtung an Zirkusschulen stark vertreten ist. Die deutsche Circuszeitung kommentierte im Februar 2012 in einer Programmrezension zum Pariser Festival: "Wie eine Parallelwelt hat sich die mit staatlichen Mitteln aufgeblähte Szene in Frankreich entwickelt und den Circus, jedenfalls das, was der Cirque Nouveau unter diesem Begriff versteht, zum Minderheitenprogramm gemacht, das nachts auf Arte versendet wird. Den Kontakt zum ursprünglichen Circus [...] hat diese Szene längst verloren." - Seitdem hat der Anteil klassisch orientierter Nummern beim Festival jedoch wieder zugenommen. Eine so starke Kluft zwischen klassischem und Neuem Zirkus, wie sie im Artikel der Circuszeitung dargestellt wurde, beseht nach unserer Einschätzung heute nicht mehr.

Zum Spannungsfeld werden die Unterschiede zwischen Traditionszirkus und Nouveau Cirque eigentlich erst dann, wenn Politik und Medien den Nouveau Cirque als Argument gegen klassischen Zirkus ins Feld führen. Dies geschieht bis heute in der Debatte um Zirkustiere (s. Seiten zur Tierhaltung). Abgesehen davon bereichert der Nouveau Cirque die Welt der Zirkusakrobatik, und es gibt mittlerweile ein paar gelungene Beispiele für Programme, in denen klassischer Zirkus und Elemente des Nouveau Cirque erfolgreich kombiniert werden. Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist vielleicht der französische Pferdezirkus Folies Gruss (ehemals Alexis Gruss). Auch Konzepte wie der kleine Piglet Circus von Sarah Schwarz, der meist in Niedersachsen reist, bieten eine Art Mischung aus "Theaterzirkus" und Tradition. Dass wir auf unserer Seite trotzdem dem Traditionszirkus den Vorrang geben, erklärt sich aus unseren Beiträgen und am persönlichen Geschmack. Beim Traditionszirkus muss man sich stärker um politische Rahmenbedingungen sorgen.