Zirkusleben - Hinter den Kulissen und öffentlich

"Nirgends auf der Welt, dachte Nabil [...], liegen Lüge und Wahrheit, Schönheit und Hässlichkeit, Glanz und Elend so nahe beieinander wie im Circus."                               

(Rafik Schami, "Reise zwischen Nacht und Morgen")

 

"Auch ohne Kostüm wirken [die Artisten] glamourös. Die farblosen Arbeiter, die überall umherlaufen, existieren zwar im gleichen Universum, aber offenbar in einer anderen Dimension. Sie reagieren mit keiner Geste aufeinander."

(Sara Gruen, "Wasser für die Elefanten")

 

Arbeiter beim Circus Krone (Gastspiel in Berlin) machen Pause


Persönliches Vorwort des Redakteurs

Ich selber bin nie mit einem Zirkus mitgereist. Ich kenne die Branche lediglich durch zahlreiche Zirkusbesuche, Informationen aus der Fachpresse (v.a. der Circuszeitung) sowie durch einzelne Führungen hinter den Kulissen, bei denen man mit dem ein oder anderen Mitarbeiter ins Gespräch kam. Darüber hinaus habe ich Fachliteratur über die "Fahrenden" gelesen. Aus Sicht der Zirkusleute bin ich "privat", keiner von ihnen. So kann ich hier nur aus meinem Hobby-Wissen heraus versuchen, ein paar Hintergründe und Schwierigkeiten aus der Lebenswelt Zirkus knapp zusammengefasst zu schildern. 

Das abenteuerlich-romantisch anmutende Wanderleben der Zirkusleute zwischen Kargheit und Glanz wird nirgendwo besser spürbar als auf den Plätzen traditioneller Reisezirkusse, wie hier beim Circus Berolina in Berlin-Lichtenberg.

Parallelwelt Zirkus

Alle Zirkusleute haben eines gemeinsam: sie sind ständig unterwegs. Die Welt der „Fahrenden“ ist seit je her eine Parallelwelt zum bürgerlichen Dasein der „Privaten“ (= in der Zirkussprache alle Personen, die nicht zum Zirkus gehören). Wenn man dazugehören will, erwarten Zirkusleute, dass man sein früheres, bürgerliches Leben aufgibt und den Zirkus fortan als Arbeitsplatz und Wohnort betrachtet. Mitreisende „von Privat“ haben mir erzählt, dass sie ihren kompletten früheren Freundeskreis aufgegeben haben. Anfangs lassen einen die Zirkusleute gerne die Distanz spüren. Den Privaten - den Bürgerlichen oder Gadjos* - gegenüber verhalten sich viele Zirkusleute erstmal skeptisch. 

Freilich haben viele Reisende irgendwo etwas Festes - eine Wohnung, ein Haus, ein Grundstück. Da aber die Saison lang ist und für die Artisten auch im Winter viele Engagements auf dem Plan stehen, halten sie sich nie länger an festen Wohnorten auf. Nicht wenige von ihnen haben tatsächlich keine feste Anlaufstelle, sondern leben dauerhaft im Wohnwagen.

*) Gadjos (Zirkussprache) = gleiche Bedeutung wie "Private". Das Wort stammt aus der Sinti-Sprache, obwohl nur wenige Zigeuner mit Zirkussen reisen. Die Sinti nennen alle Nicht-Sinti "Gadjo". (Erläuterung: Circus-Lexikon von Schulz/ Ehlert)

Obere Reihe - 1: Circus Carl Busch an einem trüben Tag auf dem Heiligengeistfeld (Hamburg). - 2: Der Circuspalast der Familie Huppertz musste bei einem Hamburg-Gastspiel mit einem versteckten Platz in einem Wohnviertel vorlieb nehmen. - 3: Abendliche Winterstimmung zu Silvester beim Zirkus Zaretti in Itzehoe (vorne: Besucher gehen ins Stallzelt). 

Untere Reihe: Schmucke Vorderfront (1) und Alltag hinterm Zelt (2) beim früheren dänischen Traditionszirkus Benneweis.

3: Wohnwagen-"Idylle" beim dänischen Cirkus Arena auf einem Platz in Sönderborg.

Soziales Gefüge

Hinter den Kulissen eines reisenden Zirkus bestimmt harte Arbeit den Alltag, und wer im Zirkus mitreisen will, braucht wohl so etwas wie ein dickes Fell. Wichtig für die Betrachtung des Sozialgefüges eines Zirkus ist die Unterscheidung zwischen Artisten und Chefs auf der einen und Arbeitern (Zirkussprache: „Racklos“) auf der anderen Seite. Diese grobe Zweiteilung, die sozusagen über der differenzierten Hierarchie der Mitarbeitenden steht, hat in vielen traditionellen Reisezirkussen bis heute überdauert. Häufig findet so gut wie keine Kommunikation zwischen den beiden "Lagern" statt. Die Arbeiter stehen in der Rangliste weit unten und müssen sich deshalb mit weitaus geringerem Lohn und Komfort begnügen als die Artisten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Reisende zweiter Klasse. Was die Sozialromantik ebenfalls schmälert, ist der oftmals raue Ton unter den Mitarbeitern.

Bilder - 1: Beim Schnappschuss im Circus Krone wird die Rangordnung zwischen Artisten (auf dem Todesrad) und Arbeitern (unten an den Sicherheitsmatten) bildlich. - 2+3: Arbeiterwagen im Circus Roncalli, am Kanal in Hamburg-Hammerbrook.

Prinzipale und Größenunterschiede

Der Zirkusdirektor wird in manchen kleineren Zirkussen noch heute als Prinzipal bezeichnet. So hießen bereits die Chefs der Kunstreiter- und Seiltänzertruppen vor der Entstehung des neuzeitlichen Zirkus. Der Ausdruck wurde früher ferner für Schulleiter, Geschäftsinhaber oder Vorgesetzte verwendet (er ist laut Handelsgesetzbuch noch gültig für Inhaber kaufmännischer Unternehmungen). Carl Krone vom bekannten Münchener Zirkus nannte sich in den 1920er/30er Jahren „Zirkuskönig“, weil das Unternehmen an der Spitze der europäischen Zirkusse stand. Zwischen den Zirkussen gibt es bis heute interne Rangunterschiede nach Unternehmensgröße. In früheren Zeiten rechnete man haarspalterisch die Zahl der Pferde oder Elefanten auf und orientierte sich an der Zahl der Mitarbeiter und der Größe des Fuhrparks, um die Konkurrenz zu überbieten. Die frühere Einteilung in Groß- und Familienzirkusse (mit der Zwischenstufe der Mittelzirkusse) macht indes kaum mehr Sinn, da die Grenzen mittlerweile verwischt sind.

Viele der traditionellen, oft kinderreichen Zirkusfamilien in Deutschland sind heute weit verzweigt. Anstatt sich aber zusammenzutun und alle Kraft in den Aufbau eines Qualitätsprogramms zu investieren,  gründet oft jeder Zweig einer Familie einen eigenen kleinen Zirkus. Manche schaffen es zu beträchtlicher Größe betreffend Zelt, Fuhrpark oder Tierbestand, was bei Besuchern falsche Erwartungen weckt, weil man einen Großzirkus vermutet, wohinter sich dann ein kleiner Familienzirkus verbirgt. 

Bilder: Im Kontrast wirkt der Direktionswagen des C. Roncalli geradezu mondän (1), nicht ganz so der ebenfalls gut ausstaffierte Wagen von Gerd Siemoneit im früheren C. Barum (2). - 3: Wohnwagen unterschiedlicher Güteklasse auf dem Platz des Circus Barum in Bottrop 2008. - 4: Wohnwagen des Schweizer Circus Knie in Lausanne am Genfer See.

Traditionelle Zirkusfamilien

Im Folgenden zähle ich einige angestammte Zirkusfamilien aus Deutschland alphabetisch auf, um ein paar Namen anklingen zu lassen. Althoff und Busch seien vorweg genannt: diese beiden Namen sind in den meisten Fällen, wo sie noch vorkommen, angemietet, verweisen also nicht auf den Inhaber des Zirkus. An Familien seien sonst angeführt: Brumbach; Bügler; Fischer; Frank; Freiwald; Geier-Busch; Hecker (auch Häcker gibt es); Heilig; Huppertz; Kaiser; Kaselowsky/Casselly; Kastein; Köhler; Köllner; Lacey-Krone; Lauenburger; Leyseck; Maatz; Mak; Neigert; Ortmann; Probst; Quaiser; Renz; Richter; Riedesel; Rogall; Schmidt; Scholl; Sperlich; Spindler; Traber; Tränkler; Weisheit; Wille; Zinnecker... um nur einige zu nennen. Falls die jungen Generationen aus den Familien Siemoneit-Barum oder Paul (Roncalli) in Zukunft Zirkusse führen, zählen auch sie dazu, wenn auch ihre Gründer von Privat kamen. Sascha Melnjak vom Zirkus Charles Knie ist meines Wissens kinderlos. Die Großzirkusse heben sich ohnehin ein wenig ab. Zählt man noch die Weihnachtszirkusse hinzu, kämen weitere Familien in Frage, doch das würde zu weit führen. - Übrigens: Die in der Schweiz und Österreich präsente Familie Knie wird in der Schweizer Öffentlichkeit und Presse fast wie Adel behandelt. So etwas wäre in Deutschland kaum denkbar.

Bilder: Schöne Holzschindel-Wagen im Schweizer Circus Nock (1) und von Raubtierlehrer Dieter Dittmann bei einer Tournee im Circus Barum (2). - Russische Artisten in ihrer Freizeit im früheren Zirkus Probst (Ost) in Rostock. - 4: Weißclown in Trainingsjacke unterhält sich vor der Show mit Mitarbeiterinnen des Circus Krone.

Sprösslinge aus traditionellen Zirkusfamilien suchen sich fast immer Lebenspartner aus der eigenen Zunft. Es ist nicht nur eine Frage der persönlichen Haltung, sondern hängt auch damit zusammen, dass sich die Lebenswelten von Reisenden und Privaten extrem unterscheiden. Für eine Liebesbeziehung zwischen Reisendem und Privatem müsste einer der Partner sein bisheriges Leben aufgeben. Ungeachtet der scheinbaren Kluft kommen trotzdem Ehen zwischen Artisten und Bürgerlichen zustande.

In den Kleinzirkussen haben die Eltern teilweise noch weitreichende Entscheidungsbefugnisse und nehmen Einfluss auf die Heiratspläne ihrer Kinder. Bei Hochzeiten zwischen Gauklerfamilien zieht die angeheiratete Frau in der Regel in den Zirkus des Ehemanns. Viele Familien sind patriarchalisch strukturiert: Der Vater als Familienoberhaupt hat das Sagen, ohne den Chef kann nichts entschieden werden. Solche familiären Strukturen findet man in den großen, von einer Chefetage geführten Zirkussen nicht. Manche Direktoren von Großzirkussen kommen ohnehin von Privat.

Bilder: Alltagsszenen aus dem Circus Barus der Familie Frank im hessischen Neu-Isenburg. - 1: Tägliche Fellpflege der Tiere ist erforderlich. - 2: Die Zirkusfamilie in der Mittagspause auf dem gemieteten Zirkusplatz am Stadtrand, der im Winter und Hochsommer als Stammquartier dient. - 3: Der Platz im Gewerbegebiet zwischen Baugruben kostet trotzdem einiges an Miete. - 4: Leben zwischen Material- und Wohnwagen und Chapiteau.

Religiosität - keine Unbekannte

Religion spielt im Leben der Zirkusleute meist eine Rolle. Vielen Familien ist eine Anbindung an ihre Kirche wichtig, Taufen und seelsorgliche Betreuung werden wahrgenommen. Die katholische Kirche hat dafür eine deutschlandweite Circus- und Schaustellerseelsorge organisiert, während die evangelischen Landeskirchen überwiegend ehrenamtliche oder im Ruhestand befindliche Pastoren entsenden. Manche Zirkusfestivals oder Weihnachtszirkusse feiern Gottesdienste im Zirkuszelt. - Auch wenn es nach außen oft nicht so scheint: Eine gewisse Demut oder Frömmigkeit ist Zirkusleuten nicht abzusprechen. Ihr Leben hängt von vielen Faktoren ab; man setzt sich Risiken und Gefahren aus.

Bilder: Alltagsmomente im winzigen Circus Kaiser - einem von mehreren mit diesem Namen - bei einem Gastspiel im Hammer Park, in unserem Wohnviertel in HH-Hamm. Inzwischen reist die Familie mit Puppentheater und Hüpfburgen.

Kriminelle Zirkusleute?

Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, viele Zirkusleute seien kriminell. Das trifft auf die Mehrheit der Zirkusfamilien nicht zu. In manchen Familien kommt es allerdings wirklich hin und wieder zu kriminellen oder gewalthaften Auswüchsen, was dann von Lokalzeitungen aufgegriffen wird. Mir sind in den letzten Jahrzehnten vereinzelt rechtliche Verstöße aus der Zirkusbranche bekannt geworden: Hinterziehung von Steuern; nicht angemeldete Kraftfahrzeuge; Verstöße beim Tierschutz; einmal sogar der Vorwurf von Menschenhandel (handelte es sich um Prostitution?). Vereinzelt kamen Schlägereien zwischen Zirkusfamilien in die Presse. Solche Meldungen bestärken natürlich ebenso einen schlechten Ruf wie Bettelaktionen für Tierfutter, schmutzig hinterlassene Zirkusplätze oder das Nicht-Einhalten von Fristen auf Plätzen. Dennoch ist es völlig verfehlt, aus solchen Berichten auf eine Regelmäßigkeit zu schließen oder Zirkusleuten gar entsprechende Charaktereigenschaften zu unterstellen. Mir sind aus persönlichen Begegnungen etliche sehr aufrichtige, integere Zirkusfamilien bekannt.

Bilder oben: Technik bei Roncalli (1) und Barum (2). - 3: Christian Kaiser aus Wolgast (Usedom) hatte sich dem Circus Europa angeschlossen, wo wir ihn 2007 antrafen. Er erzählte uns einiges aus dem Zirkusleben. - 4: Mitarbeiterpause beim Cirque du Soleil. Wohnwagen gibt es dort kaum, da die Artisten im Hotel wohnen und Mitarbeiter/innen pro Gastspielort angeworben werden. Allein deshalb hat der Mega-Zirkus weitaus weniger Atmosphäre als hiesige Wanderzirkusse. 

Die Artisten

Die Artisten, die vom Zirkus für eine oder mehrere Saisons verpflichtet werden, haben in der Regel eine bedeutend höhere Stellung als die Arbeiter. Internationale Spitzenartisten verdienen gutes Geld und können sich große Luxuswagen oder Hotelzimmer leisten. Mit der Zugkraft der Nummer steigt der Wert eines Artisten. Hochkarätige Preisträger wie die Gewinner des Circusfestivals von Monte Carlo verlangen hohe Gagen und sind für kleine Zirkusse zu teuer. Selbst in großen Zirkussen bekommt man häufig nur einzelne hochpreisige Nummern zu sehen. Die Gagen werden monatlich, wöchentlich, oder - bei kürzeren Engagements wie Weihnachtszirkussen - pro Gastspiel ausgezahlt. Auch pro Tag kann eine Gage festgelegt werden. In unseriösen Zirkussen führen ausbleibende Gagen manchmal zum vorzeitigen Ausscheiden von Truppen aus laufenden Saisonprogrammen. 

Die meisten Zirkusse engagieren heute nur noch Artisten, die mehrere Nummern im Repertoire haben. Der Vorteil besteht darin, dass der Preis für die einzelnen Darbietungen sinkt. Erheblich teurer sind Programme, in denen jede Nummer von anderen Artisten dargeboten wird. Der gehäufte Einsatz von Allroundartisten kann zulasten der Programmqualität gehen, wobei es vielseitige Spitzenartisten gibt, die in allen gezeigten Disziplinen stark sind. 

Ist eine Nummer einmal einstudiert, sind keine dauernden Proben mehr erforderlich. Die Routine wird durch die täglichen Vorstellungen aufrechterhalten, und für manche Spitzenartisten würde es sogar eine gewisse Blöße darstellen, wenn sie tägliche Proben nötig hätten. So haben die Artisten unter allen Mitreisenden die meiste Freizeit. Die größte Einschränkung besteht wohl darin, dass sie sich nie länger vom Zirkusplatz entfernen können. Urlaub oder Ferien sind in der Zirkuswelt beinahe Fremdwörter.

Bilder - 1-3: Das Winterquartier des Circus Krone an der Marsstraße in München. - 4: Sättel und Zaumzeug im Stallzelt des früheren ostdeutschen Zirkus Probst.

Ständig am Arbeitsplatz

Ähnlich wie auf einem Schiff, so verbringen auch die Menschen im Zirkus ihren gesamten Tagesablauf am Arbeitsplatz. Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass man rund um die Uhr schuften muss. Dennoch ist man theoretisch immer abrufbar, zumindest wenn Not am Mann ist. Die Aufgaben sind indes in der Regel klar abgegrenzt: Der Pressesprecher oder die Büromitarbeiter eines Zirkus müssen beispielsweise nicht beim Zeltaufbau oder bei Stallarbeiten mit anpacken. Allroundarbeiter gibt es nur in kleinen Wanderzirkussen. Auch dass Artisten in der Pause Popcorn verkaufen, ist eher in kleineren Unternehmen üblich. Die Kasse wird hingegen auch in größeren Betrieben häufig von der Zirkusfamilie selbst übernommen.

Bilder - 1: Bei Winterwetter gastierte der frühere Circus René & Patrizia Althoff in Langenfeld (Rheinland) auf einem inzwischen bebauten Brachgelände an der B 8. - 2: Sturmschäden beim Circus Voyage auf der Horner Rennbahn (HH-Horn). 

Bescheidener Lebensstandard

Der Komfort im Zirkus ist bescheiden, auch wenn Artisten und Chefs teilweise in Luxuswagen leben. Man muss sich auch als "First-Class-Reisender" im Klaren darüber sein, was das Leben im Wohnwagen bedeutet. Auf den Zirkusplätzen ist es oftmals dreckig; bei Regenwetter hat man ein Schlammfeld direkt vor der Haustür. Der Wagen muss von Ort zu Ort bewegt werden, hin und wieder gibt es technische Pannen, man bleibt unterwegs stecken oder kommt wegen Schnee und Glatteis nicht voran. Der Platz im Wohnwagen ist begrenzt. Wenn man Glück hat, kann man sich einen Wohnwagen mit WC oder Dusche leisten (oder bekommt einen solchen gestellt), das ist aber nicht selbstverständlich. Selbst in größeren Zirkussen müssen auch ranghöhere Mitarbeiter teilweise mit Gemeinschaftsduschen und separaten Toiletten vorliebnehmen. Wenn es im Winter friert, gibt es Probleme mit Wasseranschlüssen. Ein Jahrmarkts-Schausteller berichtete mir einmal, dass er bei Dauerfrost tagelang das Wasser laufen lassen musste, damit die Leitung nicht zufror. Warmwasser gibt es ohnehin nur, wenn Zugang zu einer Wasserheizung besteht oder ein entsprechender Apparat im Wohnwagen installiert ist.

Bilder - 1: Bei Winterwetter gastierte der frühere Circus René & Patrizia Althoff in Langenfeld (Rheinland) auf einem inzwischen bebauten Brachgelände an der B 8. - 2: Sturmschäden beim Circus Voyage auf der Horner Rennbahn (HH-Horn). 

Früher war es in Großzirkussen Gang und Gäbe, dass die Mitreisenden drei Mahlzeiten am Tag erhielten. Eine Zirkusküche in der Art einer Kantine war dafür zuständig. Diesen Komfort gibt es heute nur noch in wenigen Ländern in sehr großen Zirkussen (Beispiel: Schweiz). In den meisten deutschen Unternehmen müssen sich die Mitreisenden selbst beköstigen. In kleinen Familienzirkussen kann man vielleicht mit der Zirkusfamilie gemeinsam Mittag essen, wenn man einen Draht zu ihr hat oder in entsprechend wichtiger Funktion dort arbeitet (ich wurde einmal als Berichterstatter einer Lokalzeitung zum Essen eingeladen).

Bilderstrecke: Aufbau des Circus Krone auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg-St. Pauli. Bei großen Zirkussen ist  der Auf- und Abbau ein sehenswertes Ereignis, das nach genauen Abläufen funktioniert, wobei der Platz oftmals chaotisch wirkt. Auf dem Bild ganz oben links sieht man die noch liegenden Masten des Hauptzelts, bevor sie aufgerichtet werden. Unten rechts transportiert ein Fahrzeug Betonklötze, die unter anderem zur Sicherung des Platzes aufgestellt wurden.

Geringe soziale Absicherung

Auch die Standards bezüglich der Arbeitsverträge sind deutlich gesunken. Die soziale Absicherung war besonders umfassend im Staatscircus der sozialistischen DDR, wo sogar Ärzte und Krankenschwestern mitreisten. Unter einem bestimmten Niveau durften die staatlichen Zirkusbetriebe dort gar nicht auf Tournee gehen. Doch auch in westdeutschen Großzirkussen konnte man in den 1950er bis -70er Jahren in einem ordentlichen Arbeitsverhältnis angemessen Geld verdienen und war sozusagen rundum versorgt.

Während es z.B. in der Schweiz (wo der Zirkus einen hohen Stellenwert genießt) gesetzlich vorgeschrieben ist, die Mitarbeiter eines Zirkus sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen, gibt es in deutschen Zirkussen oftmals nur einen vereinbarten Betrag bar auf die Hand. Geld ist im Zirkus ein schwieriges Thema. Ich habe mitbekommen, dass der Verhandlungspunkt in Bewerbungsgesprächen bis zuletzt aufgeschoben wird. Als Bewerber muss man - auch in höheren Funktionen - auf Sparflamme verhandeln, es sei denn man ist Spitzenartist. In einem unseriösen Zirkus kann es passieren, dass versprochenes Geld verzögert oder gar nicht ausgezahlt wird. Davon sind vor allem rangniedere Arbeiter betroffen. Ausländische Wanderarbeiter nehmen solche Zustände in Kauf, weil sie froh sind, mit dem Zirkus reisen zu dürfen.

Bilder oben: Gute Zirkusplätze werden rar. - 1+2: Die Galopprennbahn in HH-Horn ist ein schöner Platz, aber etwas versteckt gelegen. - 3: Der "Königsplatz" in Hamburg: Das Heiligengeistfeld. - 4: Auf dem Frascati-Platz in HH-Bergedorf gastieren kleine wie große Zirkusse, hier der C. Belly. - 5: Zentral, aber eng: Die Moorweide am Hamburger Dammtor-Bahnhof mit dem "alten" Zirkus Charles Knie. - 6+7: In Würzburg liegt der Platz für Zirkusse (hier Carl Busch) am Main nahe der Fernbahnstrecke. 

Hohe Kosten - kaum öffentliche Unterstützung

Die verschlechterte Infrastruktur und soziale Versorgung in Zirkussen ist zum Großteil auf erschwerte öffentliche Bedingungen zurückzuführen. Viele Städte und Gemeinden stellen für Zirkusgastspiele keine zentralen Plätze mehr zur Verfügung. Innerstädtische Flächen sind aus Sicht der Stadtplaner zu kostbar, um sie als Freiflächen für Jahrmärkte und Zirkusse zu „verschenken“. Zirkusse müssen entweder am schwer erreichbaren Stadtrand oder auf engen innerstädtischen Grundstücken gastieren. Hohe Platzmieten sind trotzdem keine Seltenheit.

Bilder - 1: Nicht jeder Zirkus kann sich großflächige Plakate leisten wie der Circus Krone. - 2+3: Typische Plakate des Circus Werona in Cuxhaven. - 4: "Ladenhänger" nennt man die kleinen Plakate an Ladentüren oder (wie hier) an Stromkästen.

Die Zirkuskunst wurde in Deutschland 2022 als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Doch werden Zirkusse nicht - wie Theater oder Opern - öffentlich subventioniert. Ihre Kosten müssen sie selbst bestreiten. Die Ausgaben eines großen Reisezirkus bezifferte Jana Lacey-Krone vom Circus Krone 2018 auf 28.000 Euro pro Tag. Neben den teuren Platzmieten fallen hohe Stromkosten an, außerdem: Benzin und Reparaturen für die Transportfahrzeuge; Futter und Unterbringung für die Tiere; Ausgaben für Werbung und Reklame; Entlohnung der Mitarbeiter; Gagen für die Artisten - schließlich eine Reihe steuerlicher Abgaben, von denen die Zirkusbranche hart betroffen ist. Auch kleine Zirkusse müssen darum entsprechend hohe Eintrittspreise nehmen, was gar nicht immer im Interesse der Zirkusleute liegt (der Chef eines Kleinzirkus beklagte diese Entwicklung 2024 mir gegenüber). Die Zuschauer aber erwarten ein gutes Programm und vorbildliche Tierhaltung. Beides ist nur realisierbar, wenn dem Zirkus genügend Geld und Platz zur Verfügung stehen. 

Es entsteht schnell ein Teufelskreis: Eine geringverdienende Familie mit mehreren Kindern kann sich einen Zirkusbesuch kaum mehr leisten. Hohe Eintrittspreise halten Menschen vom Zirkusbesuch ab – oder werden vom Zirkus durch Ermäßigungs- und Freikarten kompensiert, die überall im Ort ausliegen, was dann wieder die Einnahmen für den Zirkus (und die Programmqualität) reduziert.

Bilder - 1: Die Abspannseile bilden einen Teil der Befestigung des Zirkuszelts. Sie werden in der Regel mit Ankern im Boden befestigt (s. auch 2). - 3: Auf dem Hamburger Heiligengeistfeld ist das Anker-Schlagen wegen angeblicher Minen-Räumung seit Jahren untersagt. Der Circus Krone behilft sich hier mit Betonklötzen, um das Zelt zu sichern. Anderen Zirkussen ist das zu teuer, weshalb sie den Platz meiden. - 4: Betriebsfeuerwehr im Schweizer Circus Knie.

"Regulierungswut" contra "Fahrendes Volk"

Eine Flut von Gesetzen und Regelungen auf kommunaler, Landes-, Bundes- und EU-Ebene macht den reisenden Zirkussen zu schaffen. Sie ist so unübersichtlich, dass ich kaum etwas davon darstellen kann. Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten („Drittstaaten“) können nicht mehr einfach angeheuert werden. Sicherheitsvorschriften werden immer strenger. Ein großes Thema sind die Tierschutzbestimmungen, deren Erfüllung den Zirkussen aufgrund schlechter Plätze erschwert wird. Die Kampagnen der Tierrechtsorganisationen setzen den Zirkussen hart zu. Steuerliche Belastungen machen den Unternehmen zu schaffen; etc. etc.

Bilder: Besucherandrang wie hier an der Kasse (1) und am Einlass (2) des Circus Berolina zeigt, dass Zirkus keineswegs "out" ist. Als Folge politischer Schwierigkeiten sind die Besucherzahlen allgemein jedoch stark rückläufig. Umso mehr freuen sich die Zirkusse über gut besuchte Vorstellungen (3: Circus Berolina - 4: Circus Krone).  

Mangel an qualifiziertem Nachwuchs

Die schwierigen Bedingungen, unter denen Zirkusse heute reisen, machen die Branche unattraktiv für qualifizierte Artisten. Die Absolventen der staatlichen Schule für Artistik und Ballett in Berlin orientieren sich beispielsweise größtenteils in Richtung Varieté, Gala-Event oder Fernsehshow und gehen bevorzugt zu Produktionen in der Sparte Neuer Circus (Nouveau Cirque). Zum Teil liegt das an der künstlerischen Ausrichtung. Doch auch die Lebensbedingungen in den Wanderzirkussen dürften mit verantwortlich dafür sein, dass kaum noch Absolventen von Schulen den Weg in die Zirkuszelte finden. Zwar wächst in den kleinen Familienzirkussen artistischer Nachwuchs heran, meistens bleiben diese Leute jedoch im eigenen Familienbetrieb, anstatt eine größere Laufbahn anzustreben.

Bilder: Der Nachwuchs in deutschen Familienzirkussen bleibt meist im elterlichen Unternehmen oder in dem des angeheirateten Partners.  - 1: Piedestal für Handstandartistik im früheren Familiencircus Kaiser. - 2: Feuerspucker im Circus Kaiser. - 3: Stephanie Probst bleibt dem Zirkus ihrer Eltern treu. - 4: Hauseigene Drahtseil-Artistin im Circus Berolina.

Selbst gemachte Probleme der Branche

Es gibt in Deutschland heute nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 200 und 350 Wanderzirkusse - weitaus mehr als im vergangenen Jahrhundert. Leider sind viele Zirkusfamilien untereinander "verkracht" und haben weit verzweigte Einzelunternehmen gegründet, die sich mit gleichem Namen gegenseitig Konkurrenz machen. Gut klingende, bekannte Namen werden mitunter unseriös verwendet. Das exzessive Verteilen tierschaupflichtiger Freikarten durch manche Zirkusse suggeriert den Zuschauern, sie bekämen guten Zirkus zum Spottpreis zu sehen. Oder es werden Attraktionen angekündigt, die der Zirkus gar nicht führt. Ein unbedarfter Besucher weiß letztlich nicht, welcher Zirkus wirklich Qualität bietet. Möglicherweise landet er in einem bescheidenen Programm, für das er viel Geld ausgegeben hat; den nächsten Zirkus meidet er dann lieber, obwohl der viel bessere Qualität geboten hätte.  Nicht zuletzt denken viele Zirkusse an ihren eigenen Vorteil, anstatt sich mit anderen zu einer Interessengemeinschaft zu verbinden. 

Bilder: Zirkusbesuchern in Deutschland wird die Auswahl nicht leicht gemacht. - 1: Der Moskauer Zirkus eines Zweigs der Familie Frank ist zwar nicht russisch, zeigt aber ein gutes, internationales Programm. - 2: Eine andere Frank-Familie führt den kleinen, aber feinen Hamburger Circus Europa. - 3: Circus Traber aus Dormagen - anscheinend verwandt mit der bekannten Hochseil-Familie. 4: Aus einer Norddeutschland-Tour wird in der Werbung schon mal eine "Euro-Tour" (Circus Werona).

Spärliche Lobby

Mit Politik haben die meisten Zirkusleute nichts am Hut. 2016 gründeten einige deutsche Zirkusdirektoren und Artisten den Verband deutscher Circusunternehmen (VdCU e.V.), der als öffentliches Organ – ähnlich dem schon lange existierenden Schaustellerverband – Möglichkeiten der politischen Einflussnahme hat. Ferner gibt es als Dachorganisationen die European Circus Association (ECA) und die Féderation Mondiale du Cirque, letztere mit Prinzessin Stéphanie von Monaco als Ehrenpräsidentin. Liebhaber der Zirkuskunst sind teilweise organisiert in Vereinen wie der Gesellschaft der Circusfreunde (GCD) e.V.. Solche Organisationen haben jedoch nur sehr begrenzt Einfluss auf Medien und Politik. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden Sendeformate für Zirkusshows systematisch abgespeckt oder eingefroren.

Von politischer Seite gibt es nur selten Stellungnahmen für den klassischen Zirkus. Hin und wieder kommt Unterstützung aus den Reihen der Unionsparteien. So hieß es schon 2009 in einer Presseerklärung der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion: "Das Kulturgut Zirkus muss Bestand haben. Der Kontakt und die Liebe vom Mensch zum Tier wird im Zirkus gefördert und geschult. Wir wollen auch weiterhin das Leuchten in den Kinderaugen sehen, wenn sie einen Zirkus besuchen." (Abgedruckt im Programmheft des Gelsenkirchener Weihnachtscircus, Circus Probst). Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, gab 2019 folgende Stellungnahme ab"Circus art is a vivid part of Europe's cultural heritage with a history, in all its forms, that spans centuries." Mit der Anerkennung der Zirkuskunst als immaterielles Kulturerbe durch die UNESCO 2022 wurde in Deutschland ein Fortschritt erzielt.

Bilder - 1: Fuhrpark, Zelt und Besucherparkplatz des früheren Cirkus Benneweis im dänischen Aabenraa. - 2-6: Verschiedene Kassenwagen in den Zirkussen Carl Busch (2), Traber (3), Belly (4), Probst (5) und "Ost"-Probst (6). - 7: Liebevoll dekorierter Toilettenwagen des Circus Europa.

Hingehen und anschauen

Um die Zirkusse zu unterstützen, können wir nur dazu ermuntern, Programme in der Nähe des eigenen Wohnortes oder am Urlaubsort zu besuchen. Spätestens um Weihnachten herum boomt das Geschäft der Weihnachtszirkusse derart, dass Deutschland zu einem Zentrum der Zirkuskunst in Europa wird. Schade, dass diese Attraktivität nicht mehr in den klassischen Sommertourneen erreicht wird - ist doch die Weihnachtszeit traditionell eher eine Zeit der (christlichen) Besinnung. - So oder so: Zirkus lohnt sich als Erlebnis für die ganze Familie, auch und erst recht der Zirkus in seiner klassischen Form!

Bilder: Zirkus- und Jahrmarktsorgel (1) und Einlass (2) vor dem Schweizer Circus Knie. - 3: Belebte Pause bei einer Premiere des Circus Krone in Hamburg. An der Laterne wieder Betonklötze, die man für Befestigungen benötigte (s. Bild weiter oben).