Musik im Traditionszirkus
Ein Zirkusbesuch Anfang der 2000er Jahre. Während sich das Chapiteau noch mit Zuschauern füllt, klingt aus den Lautsprechern dezent romantische Filmmusik von Charlie Chaplin, die nostalgisch-atmosphärisch auf das Kommende einstimmt. Auf dem Podium zwischen den beiden Artisteneingängen erscheinen nach und nach Musiker in roter Livree und bringen sich mit ihren Instrumenten in Position. Am Ende füllen dreizehn Mann das relativ kleine Podium. Die Lautsprechermusik verstummt. Das Orchester stimmt die Instrumente. Vielleicht gibt es noch eine Lautsprecherdurchsage mit ein paar Regeln fürs Publikum. Dann richtet sich ein beweglicher Scheinwerfer auf das Orchester. Der Dirigent gibt den Auftakt, die Bass-Tuba begleitet im Marschrhythmus eine einzelne Klarinette. Es ertönt die Titelmelodie aus dem alten Fellini-Film 8 1/2, zuerst ganz leise, dann immer kraftvoller, bis das ganze Orchester schwungvoll beteiligt ist. Am Ende, wenn die Musik ganz schnell wird, blinken überall die Lichter am Artisteneingang.
Zwischen drei und vier Minuten dauert die stilvolle Ouvertüre: das Opening zu einem klassischen Zirkusprogramm, in dem internationale Artisten, Tiere und Clowns sich ein Stelldichein geben. Die Show wird zu 100% mit Live-Musik begleitet. Das Orchester intoniert bekannte Melodien aus Film und Musical, aus Operette, klassischem Jazz und Pop. Zum Auftakt des zweiten Programmteils spielt man einen weiteren Klassiker, den Zirkusmarsch Cyrk von Issak Dunajewski aus einem alten russischen Film. Zum Finale und Ausklang gibt es Melodien des deutschen Schlagerkomponisten Lotar Olias, die in den 1950er Jahren vom zirkusbegeisterten Freddy Quinn gesungen wurden. Die Melodien begleiten die aufbrechenden Zuschauer noch, bis die meisten das Zelt verlassen haben. Die Atmosphäre nehme ich mit auf dem Weg nach Hause, sie erfüllt mich mit einem seltsamen Gefühl nostalgischer Wehmut.
Bilder: Reisezirkusse mit Live-Musik sind derzeit u.a. der Circus Gebr. Barelli (1) und der Circus Probst (3). Die Kapelle im Great Christmas Circus (Carl Busch) in Frankfurt (2) ist nicht besonders groß besetzt, spielt aber umso beherzter.
Was ich hier beschreibe, ist ein Besuch im Circus Siemoneit-Barum, der im Jahr 2008 seine letzte Vorstellung gab. Bis dahin war dieser Zirkus für mich der Inbegriff des mustergültigen Traditionszirkus. Ganz erheblich trug dazu die Qualität der Live-Musik bei. Man konnte die Programme fast schon als ein Konzert traditioneller Zirkusmusik genießen, zu der eben auch noch hochwertige Akrobatik und Dressuren geboten wurden. Eine solche Qualität fand man bis in die 1980er Jahre in nicht wenigen deutschen Zirkussen. Ob Busch-Roland, Sarrasani oder Carl und Giovanni Althoff: bei all diesen Unternehmen zeigen Programmhefte aus jenen Jahren Live-Orchester mit Größen zwischen 8 und 14 Musikern.
Heute ist das eine Seltenheit geworden. Ein Orchester ist mit hohen Personalkosten verbunden, was sich kaum ein Tourneezirkus noch leisten kann und mag. Da hält man das vorhandene Geld lieber für Artisten oder eine ordentliche Ausstattung bereit. Zudem hat sich der allgemeine Trend bei Showveranstaltungen und Musikdarbietungen stark gewandelt. Während früher gute Live-Orchester in allen möglichen Formaten gang und gäbe waren - z.B. in vielen Fernsehshows oder beim ESC (Grand Prix de la Chanson d'Eurovision) -, legt man heute vor allem Wert auf effektvollen Verkauf und bombastische Technik. Da kommt selbst beim ESC meist nur noch der Gesang live vom Interpreten. So haben auch die meisten Zirkusartisten auf effektvolle Musik vom Tonträger umgesattelt, die sie flexibel in Zirkussen überall auf der Welt mitnehmen können. Wieviel mehr Aufwand bedeutet es, wenn ein Orchester die Musik auf die einzelnen Nummern der Artisten abstimmen muss. Wo noch Live-Musik geboten wird, geht man gerne dazu über, eine Sängerin oder eine Violinistin einzubauen, wie in zahlreichen Weihnachtszirkussen heute üblich (s. unsere Seite dazu). Ein Orchester sucht man hingegen oft vergebens, und selbst wenn mal eins vorhanden ist, kommt es meistens nur noch bei einem kleineren Teil der Nummern zum Einsatz.
Bilder: Musiker des Circus Krone spielen beim Finale im Getümmel (1) und nach der Vorstellung im Foyer (2+3), unterstützt vom sangesfreudigen Ansager.
Nun ist Musik vom Tonträger keineswegs immer schlecht oder unpassend. Oft trifft das Gegenteil zu: Für viele Nummern wird passende Musik ausgewählt, welche die Wirkung der Nummer unterstreicht oder sogar erhöht. Darbietungen wie die von großen Truppen aus China würden sich für eine Untermalung durch heimische Orchester teilweise kaum eignen. Auch ein ganzes Programm kann im besten Fall mit Musik aus der "Konserve" stimmig gestaltet sein. - Und doch: Live-Musik, egal welcher Art, hat immer ein besonderes Flair. Und die Mehrzahl der Zirkusprogramme ist m.E. musikalisch nicht gut abgestimmt. Da gibt es einfach zu viele Brüche und Wechsel im Musikstil, weil jeder Artist und jede Gruppe auf ihren eigenen Geschmack setzen. Rockmusik in modernen Zirkussen wie Flic Flac oder dem Zirkus des Horrors passt dort zwar zum Ambiente, ist aber häufig auch nicht wirklich treffend für Akrobatik & Co. Zudem hat Musik aus der Konserve manchmal den Effekt, dass eine Nummer mehr durch die Begleitmusik wirkt als durch die Darbietung selbst. Wenn z.B. ein Artist digital Show must go on von Queen mitbringt, oder Caruso von Luciano Pavarotti , dann ist der Eindruck der Nummer schon fast zur Hälfte der Stimme von Pavarotti bzw. Freddy Mercury geschuldet, oder dem "Bombast-Sound" der Musik. Mit einem Orchester hingegen haben alle auftretenden Artisten "gleiche" Bedingungen hinsichtlich des Klangteppichs.
Bilder - 1: Der Circus Roncalli hat seit jeher ein exzellentes Orchester. - 2: Herausragend (auch an Größe) ist das Orchester im Dresdner Weihnachtscircus. - 3: Meistens sitzen die Orchester über dem Artisteneingang, wie hier im Circus Barelli.
Doch auch ein Orchester ist nicht immer ein Segen. Dort kommt es freilich auf die Qualität der Musiker an. Nicht selten habe ich mich schon über Zirkuskapellen geärgert, die nicht sauber oder mitunter sogar schief spielen, wo die Instrumente in der Lautstärke nicht gut aufeinander abgestimmt sind, oder die nur für die Übergänge zwischen den Nummern eingesetzt werden und dann mit simplen Rhythmen zum Mitklatschen die Stimmung anheizen. Für ein gutes Orchester bedarf es talentierter Musiker, die sich auf die Eigenart eines Zirkusprogramms einstellen. Im letzten Jahrhundert gehörten lange Zeit polnische Musiker zu den besten in reisenden Zirkussen; so stammte die oben beschriebene Kapelle im Circus Barum aus Polen. Bis heute kommen Zirkusorchester meistens aus osteuropäischen Ländern: häufig aus der Ukraine, aber auch aus Polen, Moldawien und anderen Gegenden.
Ein traditionelles Zirkusorchester besteht aus einem großen Anteil von Blech- und Holzbläsern. Vor allem Trompeten, Posaunen, Saxophone und Klarinetten gehören zum gängigen Repertoire, außerdem ein gutes Schlagzeug sowie in der Regel ein Klavier (oder Keyboard) und ein E-Bass (vormals Tuba oder Kontrabass). In gut ausstaffierten Orchestern kommen zusätzliche Gitarren, Violinen und/oder Akkordeons zum Einsatz. Das Xylophon ist etwas aus der Mode gekommen; dabei bietet es sich nicht nur für klassische Galoppstücke wie Erinnerungen an Circus Renz an. Triangeln oder Glockenspiel können das Schlagwerk komplettieren. Zur Erzeugung eines künstlichen Streicherteppichs dient meist das Elektroklavier, das gerne auch die ältere Hammondorgel für entsprechende Orgeleffekte ersetzt.
Bilder - 1: Musicalclown-Trio im Karlsruher Weihnachtscircus. - 2: Clownskapelle beim Empfang zum Circusfestival von Monte-Carlo. - 3: Die Familie Huppertz im Schweriner Weihnachtscircus bildet ein Orchester in wechselnder Besetzung.
Zirkusmusik wird in einer ganz eigenen Weise arrangiert. Meist wird Musik aus allen Sparten verarbeitet: Pop, Rock, Musical, Filmmusik, Oper, Klassik, Dixie, Jazz, Tanzmusik, Schlager, Chanson, Volksmusik aus verschiedenen Ländern... Auch aktuelle Musik aus den Charts wird verwendet, wobei ältere Melodien meist bevorzugt werden. Die Stücke werden im zirkustypischen Klang umgesetzt und an das Geschehen in der Nummer angepasst. Der Schlagzeuger kommentiert stellenweise minutiös die Bewegungen der Artisten und setzt für Höhepunkte einen Trommelwirbel. Der Dirigent oder Band-Leader hat im besten Fall sowohl seine Musiker als auch die Artisten in der Manege jederzeit im Blick.
Manche Stücke in der klassischen Zirkusmusik werden allein aus der Tradition überliefert, ohne Wissen um ihre Herkunft und ohne originale Notensätze. Als ich den Orchesterchef vom Circus Krone einmal nach zwei Melodien fragte, die häufig beim Abbau des Raubtierkäfigs gespielt wurden, antwortete er achselzuckend, es handele sich um "balkanische Musik". Vermutlich geht sie auf Zigeuner-Weisen zurück. Für den Großteil der Stücke sind Orchesterleiter indes auf eigene oder fremde Arrangements angewiesen. Zur Eröffnung oder im Finale bieten sich nach wie vor Zirkusmärsche an wie Salto mortale (Titelmusik einer alten TV-Serie) oder Einzug der Gladiatoren. Märsche erinnern auch an die enge Verbindung von Zirkus- und Militärmusik in den Anfängen des neuzeitlichen Zirkus (Gründung durch Militärreiter). Früher erklangen daher noch Stücke wie Alte Kameraden, Radetzkymarsch und ähnliches mehr.
In manchen Zirkussen wird sogar eigene Musik komponiert und von Live-Musikern umgesetzt. Das findet man beispielsweise in Formaten des Nouveau Cirque (s. unsere Seite dazu), etwa beim Cirque Bouffon in Deutschland oder dem Circus Monti in der Schweiz. Die Musik dort weicht mit eigenwilligem Stil wieder ab von der ganz "traditionellen" Zirkusmusik, wirkt aber sehr stimmig für das jeweilige Showformat und enthält meist noch Elemente typischer Zirkusmusik. Auf ein Musical-Konzept mit Gesangsensemble setzt wiederum die anspruchsvolle Weihnachtscircus-Varietéshow in Paderborn.
Bei Musik vom Tonträger sind der Auswahl der Stile fast keine Grenzen gesetzt. Nicht selten wird eher "billige" Effektmusik aus der Sparte Techno/Dancefloor oder Hip-Hop gespielt, in passenden Formaten Rockmusik, aber auch romantische Klänge aus Pop, Schlager, Musical und leichter Klassik.
Bilder - 1: Ein Fanfarenzug der Fürsten zu Monaco eröffnet das dortige Festival - 2: Orchester im Zirkusbau von St. Petersburg vor Beginn der Vorstellung. - 3: Direktor Ralf Huppertz am Flügel in der Pause des Schweriner Weihnachtcircus.- 3: Alte Wurlitzer Orgel im Schweizer Circus Knie.
Die wenigsten Reisezirkusse führen heute noch ein gutes Orchester mit. Eine der Ausnahmen bildet das Circus-Theater Roncalli, dessen Orchester seit Gründung des Zirkus Mitte der 1970er Jahre vom inzwischen legendären Georg Pommer geleitet wird. Der bekannte "Salon-Circus" hat freilich nicht nur im Programm, sondern auch bei der Musik von vornherein auf einen eigenen Stil gesetzt. Traditionelle Stücke aus der Zirkuswelt - wie die oben genannten Fellini-Filmmusiken von Nino Rota - wurden hier in typischer "Roncalli-Manier" vertont, ergänzt um poetisch-theaterhafte Musik, wie sie in anderen Zirkussen eher nicht geboten wird. Im Laufe der Zeit ließ Direktor Bernhard Paul als Veteran der Rock'n'Roll-Ära mehr rockige Klänge von Beatles & Co ertönen, während die klassischen Zirkusstücke teilweise nur kurz angespielt wurden (was auch der abnehmenden Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer geschuldet ist). In den letzten Jahren hat sich das bei Roncalli jedoch wieder gewendet, und überhaupt ist es großartig, dass ein Qualitätsorchester weite Strecken des Programms begleitet und die Besucher schon im Vorzelt empfängt.
2024 überraschte der nach langer Pause neu erstandene Circus Gebrüder Barelli mit einem 8-köpfigen Orchester, das Zirkusmusik vom Feinsten liefert. Sollte sich Barelli auf diesem Niveau halten, so wäre der Zirkus, was den musikalischen Part angeht, ein neues Musterbeispiel. Auch der Circus Probst geht mit einem kleinen Orchester auf Tour. Die Kapelle dort kommt nicht bei allen Nummern zum Einsatz und ist nicht bei jedem Stück musikalisch gleich stark, doch ist es beachtlich, dass man für gute Atmosphäre den Aufwand eines reisenden Orchesters auf sich nimmt. Für weniger gelungen halte ich das aktuelle Konzept im ehrwürdigen Circus Krone. Zwar reisen dort Musiker unter der Leitung des versierten ukrainischen Orchesterchefs Oleksandr Krasyun mit, doch die Programmregie fügte zuletzt Musik aus der Konserve und einige (teils simple) Live-Beiträge derart kraus zusammen, dass man nicht wirklich von einem harmonischen Ganzen sprechen konnte. Die Akustik ist zudem nicht optimal. Umso schöner ist es, dass bei Krone die Zuschauer von den Musikern im Vorzelt stimmungsvoll nach Hause verabschiedet werden. Übrigens sorgt O. Krasyun in einigen Weihnachts- und Winterprogrammen für sehr gute Zirkusmusik.
Bilder : Das Orchester des Circus Krone im Festbau in München: In der Manege vor der Show (1) und auf dem Stammplatz über dem Artisteneingang (2).
Apropos Weihnachtszirkusse: Im blühenden Geschäft zum Christfest hat man noch am ehesten die Chance, schönen klassischen Zirkus mit Live-Musik zu erleben - wobei selbst in dieser lukrativen Saison etliche Zirkusse wieder Abstand von Orchestern nehmen oder die Zahl der Musiker reduzieren. Einige Produktionen bieten nach wie vor tolle Musik im traditionellen Stil, so etwa die Weihnachtszirkusse in Dresden, Frankfurt, Ravensburg, Heilbronn, Ulm, Passau oder Karlsruhe. Auch in einigen tierlosen, modern konzipierten Shows wie dem Freiburger Circolo wird qualitative Live-Musik gespielt. Manche Familienzirkusse wie die Familie Huppertz mit dem Weihnachtszirkus in Schwerin bieten ambitionierte Musik in wechselnder Besetzung aus der eigenen Familie - fast 100% live und mit toller Atmosphäre! So lebt der Traditionszirkus einschließlich der ihm typischen Musik zumindest punktuell weiter.
Im Traditionszirkus ist passende Live-Musik aus meiner Sicht ebenso unverzichtbar wie einige typische Elemente im Programm. Der Rückgang guter Musik ist ein großer Verlust in der Zirkuswelt. Wir legen Ihnen daher Programme mit solcher Musik (und natürlich mit guten Darbietungen) besonders ans Herz. Vorhang auf, das Spiel beginnt!